Eduard Theiner, Gemeindearchivar Remseck:Wilhelm Rath (1892 – 1967)
am 24.4.2002 im Rathaus Neckarrems
anlässlich des Landesjubiläums „50 Jahre Baden-Württemberg“
Der frühere Staatssekretär im Auswärtigen Amt Karl Moersch ist ja als Publizist und Vortragsredner immer noch eifrig bei der Sache. Im vergangenen Jahr sind seine Erinnerungen erschienen, und da schreibt Moersch: er sei aus Erfahrung mittlerweile so klug geworden, daß er bei jungen Leuten keinerlei Kenntnisse mehr voraussetze über einen Adenauer, einen Kurt Schumacher, einen Heuß.
Nun, in diesen Fällen wäre dem Informationsdefizit unschwer abzuhelfen. Aber Wilhelm Rath aus Hochberg? Das Archiv des Landtags in Stuttgart konnte immerhin mit ein paar Lebensdaten dienen. Doch sein politisches Werden und sein öffentliches Wirken ist nur mehr mühsam zu rekonstruieren. Protokolle von Gemeinderat, Landtag und Bundestag geben einige Auskunft darüber, auch alte Zeitungsbände mit ihrer damals nicht gerade ausschweifenden Berichterstattung. Manch privates Detail kam in Interviews mit Tochter und Schwiegersohn zur Sprache. Dafür darf ich mich bei Herrn und Frau Munz aus Hochberg bedanken.
Ein wenig erschreckend war dennoch die Erfahrung, wie vieles bereits nach einem halben Jahrhundert verschüttet ist, mühsam ans Licht gezogen werden muß oder wohl ganz verloren gegangen ist. Dabei fasziniert doch der Gedanke, daß ein einfacher Hochberger Bauer unter jenen 402 Abgeordneten saß, die sich am 7. September 1949 in Bonn als Erster Deutscher Bundestag konstituierten.
Wilhelm Rath kommt aus einer Familie, die sich offenbar nicht scheute, politische Verantwortung zu übernehmen. Schon sein Vater Heinrich saß ab 1907 im Hochberger Gemeinderat. Karl August Rath – er ist 1903 gestorben – war Schultheiß in Ennabeuren bei Münsingen und Mitglied der Liberalen im Stuttgarter Landtag. Und auch Johannes Rath, DVP-Landtagsabgeordneter vor 1933, dürfte in die weitverzweigte Familie gehören.
Wilhelm Rath – am 6. Juli 1892 in Hochberg geboren –, hatte lediglich die örtliche Volksschule besuchen können. Was er für sein bäuerliches Handwerk brauchte, lernte er nicht auf einer Landwirtschaftsschule, sondern seit früher Jugend beim Vater – learning by doing, wie die Amerikaner so knapp und treffend sagen.
Immerhin, Vater Rath ist nicht gerade einer der Geringsten am Ort. In Dettingen/Erms 1851 geboren, hat er mit 24 Jahren in den Hochberger „Löwen“ eingeheiratet; 6 Jahre später wird er in den Gemeinderat gewählt. 1887 stirbt die Frau. Heinrich Rath macht abermals eine gute Partie, wie man so sagt: 1888 holt er sich Luise zur zweiten Frau, aus dem Neckargröninger Schultheißengeschlecht der Treiber. Und er hat jetzt schon soviel erwirtschaftet, daß er um 30.000 Mark vom Vater seiner ersten Frau den „Löwen“ erwerben kann (Hauptstraße 19). 1892 wird, wie gesagt, Sohn Wilhelm als drittes Kind geboren. Zwei Jahre danach folgt Hermann, der spätere Löwenwirt.
Beide Brüder ziehen 1914 in den Ersten Weltkrieg. Da verunglückt der Vater 1915: in Oßweil scheuen die Pferde, und Heinrich Rath zieht sich beim Aufprall aufs Wagscheit tödliche Brustverletzungen zu. Wilhelm Rath wird daraufhin vom Militärdienst befreit – wohl aber nur zeitweise, etwa in den Erntemonaten. Denn bis zum Kriegsende 1918 soll er es noch zum Unteroffizier gebracht haben, und er war als Ausbilder in der Garnison Ludwigsburg tätig.
1919 heiratet Wilhelm Rath Anna Bauder aus der Bergstraße. Schwiegervater Gottlob Bauder ist Mitglied des Gemeinderats, und auch er kommt 1932 – 70jährig – ums Leben, als sein Pfergegespann, von einem Hund erschreckt, durchgeht. Wilhelm Rath verkauft nun das Anwesen der Schwiegereltern und erwirbt die Hofanlage unmittelbar unterhalb des „Löwen“ (Hauptstraße 15).
Seit 1919 ist er Mitglied des Bauern- und Weingärtnerbunds, der damals im Landtag ein gewichtiges Wort mitsprach und vor allem in den evangelischen Agrargebieten des Unterlandes dominierte. In welcher Weise Wilhelm Rath sich hier politisch betätigte, wissen wir nicht. Möglicherweise war er Ortsvorsitzender.
Für seine Wahl 1931 in den Hochberger Gemeinderat dürfte diese Zugehörigkeit weniger entscheidend gewesen sein; waren doch die Kommunalwahlen damals in noch höherem Maß als heute Persönlichkeitswahlen, gefördert durch die Möglichkeiten des Kumulierens und Panaschierens.
Es ist eine schlimme Zeit, in der Wilhelm Rath nun seine kommunalpolitische Laufbahn beginnt. Von den 8 Mitgliedern des Gemeinderats sind 7 altgedient. Die Arbeitslosenziffer im Reich strebt auf die 6 Millionen zu, Kanzler Brüning regiert mit Notverordnungen. Die Getreidepreise bleiben zwar dank staatlicher Eingriffe weitgehend stabil; doch die Viehpreise sinken ins Bodenlose, und auch bei Milchprodukten hat anhaltender Preisverfall eingesetzt, was zu hohem Kaufkraftverlust im Dorf führt.
Wilhelm Rath ist gleichzeitig Kommandant der Feuerwehr und Vorsitzender der 1910 gegründeten örtlichen Milchgenossenschaft. Gemeinsam mit Jakob Dobler aus Pflugfelden wirbt er für einen überörtlichen Zusammenschluß der Milchgenossenschaften. Als dieses bäuerliche Gemeinschaftsunternehmen am 13. Juli 1932 tatsächlich zustande kommt, erhält es den Namen „Milchwerk Ludwigsburg“. Wilhelm Rath wird in den dreiköpfigen Vorstand gewählt, und Aufsichtsratsvorsitzender blieb er noch bis kurz vor seinem Tod – lang bevor die „Milu“ 1987 ihr unrühmliches Ende fand.
Doch zurück ins Jahr des Unheils 1933. Der Gemeinderat ist mittlerweile auf Befehl von oben auf 6 Mitglieder reduziert. Da trifft ein Erlaß des Oberamts vom 20. Juni ein (Hochberg gehörte bis 1938 zum Oberamt Waiblingen, danach zum Kreis Ludwigsburg): Bürgermeister Bürkle ist mit sofortiger Wirkung seines Amtes enthoben und wegen Verdunkelungsgefahr in Waiblingen festgesetzt. Die Vorwürfe lauten auf Vernachlässigung seiner Amtsgeschäfte und Unregelmäßigkeiten im Dienst.
Für Wilhelm Rath hat die Affäre zur Folge, daß er am 26. Juni 1933 zum Amtsverweser bestellt wird, mit 110 Mark Gehalt im Monat; das war ungefähr ein halber Monatslohn. Die Verwaltungsgeschäfte selbst erledigt ein gewisser Amtmann Kallenberg. Rath muß mit seinem Kollegium eigentlich immer nur entscheiden, was man sich nicht leisten kann: das Walzen der Hauptstraße ist zu teuer, ja selbst Flickzeug für die Feuerwehrschläuche verkneift man sich. Der Amtsdiener Klemm muß seine verschlissene Uniformjacke weiter tragen, nur eine neue Hose wird ihm bewilligt. Auch die HJ (Hitlerjugend) geht leer aus, als sie einen monatlichen Zuschuß von 10 Mark begehrt.
Immerhin kann Rath durchsetzen, daß die Gemeinde noch vor der Winteraussaat im Oktober 1933 endlich einen Trockenbeizapparat anschafft; damit wird das Saatgut gegen Pilzbefall und tierische Schädlinge behandelt. Und die Straße von der Hochberger Brücke nach Neckargröningen wird ausgebaut: zum einen, um die Verbindung nach Stuttgart zu verbessern; und zum andern, weil durch diese Notstandsmaßnahme etliche Erwerbslose wieder in Lohn und Brot kommen.
Ein dreiviertel Jahr lang bleibt Rath Amtsverweser. Das Innenministerium pocht auf einen gelernten Fachbeamten, will Hochberg einfach von Neckarrems mitverwalten lassen, wo soeben Bürgermeister Dürr als gelernter Verwaltungsmann sein Amt angetreten hat. Der Hochberger Gemeinderat protestiert dagegen: man habe immer einen Nichtfachmann gehabt und sei gut damit gefahren. Nur in den vier Amtsjahren von Bürkle sei es schief gegangen – und ausgerechnet der war Verwaltungsbeamter gewesen. Warum will man Hochberg mit seinen 637 Einwohnern die Selbständigkeit nehmen, während wesentlich kleinere Gemeinden ungeschoren bleiben? Hochberg – so schreibt der Gemeinderat nach Stuttgart – „ist eine Arbeiterwohngemeinde. Die Arbeiter wollen abends nach Feierabend ihre amtlichen Angelegenheiten erledigen.“ Und mit dem Amtsverweser Rath habe man da gute Erfahrungen gemacht: in dringenden Angelegenheiten sei der sogar sonntags zu sprechen.
Erst im März 1934 schreibt das Oberamt die Bürgermeisterstelle aus. Die Bewerber heißen Rath und Dürr. Das Innenministerium zieht sich aus der Affäre, indem es einen dritten Mann aus dem Hut zaubert. Schließlich gibt es linientreue Verwaltungsbeamte, die jetzt auf Pfründe hoffen. In Hochberg kommt Parteigenosse Adolf Schaal aus Schwäbisch Hall zum Zug. Als „alten Nationalsozialisten“ stellt ihn Kreisleiter Dickert vor, und Landrat Storz setzt ihn am 3. September 1934 ins Amt ein. Schaal wird Bittenfeld mitverwalten, er wird dort auch residieren und drei halbe Tage pro Woche in Hochberg anwesend sein. Und die Amtsgeschäfte will er „nach rein nationalsozialistischen Grundsätzen führen“.
Die Hochberger Gemeinderäte werden der Form halber um ihre Stellungnahme gebeten – und alle nicken sie. Freilich, Wilhelm Rath und sein Verwandter Wilhelm Bauder sind bereits zurückgetreten und werden sich den Rest jener 12 Jahre nicht mehr politisch betätigen.
Ich habe diese Geschehnisse der Jahre 1933/34 deshalb so breit geschildert, weil ich denke, daß sie uns Einblick geben in die Erfahrungswelt des damals 42jährigen Wilhelm Rath. Als am 21. April 1945 eine starke amerikanische Panzertruppe in Hochberg einrückt, ist er zur Stelle. Man hat ihn in den letzten Monaten noch zum Volkssturmmann gemacht. Holt ihn der amerikanische Kommandeur – ein sehr verständiger Mann, wie berichtet wird, der in Hochberg lediglich die weißen Fahnen vermißte –, holt also jener amerikanische Offizier unseren Wilhelm Rath als kommissarischen Bürgermeister gleichsam vom Pflug weg aufs Rathaus? Schriftliche Nachweise dafür fehlen, denn die Protokolle setzen erst im Oktober 1945 wieder ein, als ein neuer, von der Militärregierung eingesetzter Gemeinderat in Hochberg seine Arbeit aufnimmt. Zu dem Zeitpunkt ist Wilhelm Rath aber bereits auf anderen Ebenen tätig. Am 5. September 1945 hat die Militärregierung die Bildung politischer Parteien genehmigt. Am 18. September 1945 konstituiert sich die Demokratische Volkspartei, die DVP. Am 5. Oktober ist Amtsantritt des 1. Kabinetts Maier, und am 3. November die erste öffentliche Kundgebung der DVP im Großen Haus des Staatstheaters.
War Wilhelm Rath dabei? Wir können es nur vermuten. Zeitzeugen berichten, daß er noch 1945 den DVP-Kreisverband gegründet habe, zusammen mit Dr. Carl Schaefer aus Ludwigsburg. Der fünf Jahre ältere Schaefer (1887 – 1970) blieb lange Zeit politischer Wegbegleiter, Freund und wohl auch wichtigster Förderer Wilhelm Raths. Deshalb ein paar Stichworte zu seinem etwas ungewöhnlichen Lebenslauf: Von Hause aus Mediziner, brachte Schaefer es schon bald zum Chefarzt in Ludwigsburg. Nach seiner Einheirat in die Eisengießerei G. W. Barth legte Schaefer jedoch mit 32 Jahren das Skalpell beiseite und übernahm 1919 die Leitung des Familienunternehmens. Der spätere IHK-Präsident saß noch vor 1933 und dann wieder ab 1945 im Ludwigsburger Gemeinderat. 1945 wurde er zugleich Mitglied des Kreisrats und des Kreistags, und seit Januar 1946 gehörte er der Vorläufigen Volksvertretung an.
Rath und Schaefer also bauten seit Ende 1945 einen der ersten Stützpunkte der DVP auf, den Kreisverband Ludwigsburg. Die beiden müssen sich dabei aufs beste ergänzt haben: Schaefer sprach als Fabrikant die bürgerliche Klientel Ludwigsburgs an, während der ehemalige Bauernbündler Rath eher die Landbevölkerung auf seiner Seite hatte. Theodor Heuß hat diese Anfänge einmal als „improvisierte örtliche Gründungen“ bezeichnet, die sich aber rasch sammelten und am 6. Januar 1946 – dem traditionellen Dreikönigstag – in Stuttgart als DVP-Landespartei an die Öffentlichkeit traten.
Keine Zeitungen, keine Akten berichten über die Aufbauarbeit von damals. Aber die Früchte lassen sich erkennen, und zwar bei den Gemeinderatswahlen vom 27. Januar 1946. Die DVP tritt zwar nur in 13 der 50 Gemeinden des Kreises Ludwigsburg mit Wahlvorschlägen an. Aber mit knapp 22 Prozent der Stimmen wird sie hier zweitstärkste Partei nach der SPD. 19 ½ Prozent sind es in der Stadt Ludwigsburg. In einer Reihe von Gemeinden – etwa in Aldingen – stellt die DVP die stärkste Rathausfraktion.
Die Militärregierung forderte den demokratischen Aufbau von unten. Folgerichtig setzte sich die Bildung der Organe demokratischer Selbstverwaltung am 28. April 1946 fort mit den Kreistagswahlen. Von den 42 Mandaten des Kreises Ludwigsburg errang die DVP 14 Sitze; 17 bekam die SPD, 6 die CDU. Wilhelm Rath und Carl Schaefer zogen in den Kreistag ein. Wilhelm Rath blieb Mitglied des Kreistags bis 1959; außerdem gehörte er bis 1949 dem Kreisrat an (der Kreisrat erledigte damals die laufenden Angelegenheiten, da der Kreistag keine beratenden und beschließenden Ausschüsse besaß. Mitglieder des Kreisrats waren der Landrat und Vertreter der Berufsstände).
Das Parteiprogramm der DVP hatte sich im Herbst 1945 noch in altliberalen Gemeinplätzen verloren, ohne Bezug auf die drängenden Fragen der Gegenwart. So war es möglich, daß Heuß in jenen Monaten noch mit der Sammlung bürgerlicher Kräfte liebäugelte. In Kornwestheim bildete die DVP bei der Kreistagswahl einen gemeinsamen Wahlvorschlag mit der CDU. Bis zum Sommer 46 schärften sich jedoch die Konturen. Mittlerweile war auch der Parteiapparat im Werden. Seit dem 10. Mai 1946 erschien wöchentlich die Parteizeitung „Das neue Vaterland“. Die Gräben zwischen den Parteien wurden breiter, der Wahlkampf zur Verfassunggebenden Landesversammlung dementsprechend intensiv.
Geworben wurde mit großen, bunten Plakaten, mit Flugblättern und – in den Städten – auch viel mit Lautsprecherwagen. Freilich, eine Kreiszeitung erschien erst 1949, und die Stuttgarter Zeitung vergeudete ihr Papierkontingent nur selten für lokale Berichterstattung. So erfahren wir kaum etwas über Wilhelm Raths Wahlkampf. Hektographierte Handzettel und ein paar Dutzend Plakate – viel mehr wird es an Wahlwerbung wohl nicht gewesen sein. Dazu jede Menge Versammlungen und Reden in Wirtshaussälen, die jetzt – im Frühsommer 1946 – allerdings knapp werden, weil man sie allenthalben als Notunterkünfte für die Flüchtlinge braucht.
Das Reden – so wird berichtet – ging ihm flott von der Zunge. Er war in dieser Hinsicht ein Naturtalent. Und er sprach frei, ging stets unmittelbar auf seine Vorredner ein und reagierte manches Mal prompt auf Zwischenrufe. Dank seines guten Gedächtnisses hatte er die Fakten stets parat; darüber hinaus war er ein exzellenter Kopfrechner. Daß er bei seinen Bauern breite Sympathie genoß, hörten wir schon. Aber um einen Wahlkampf führen zu können, mußte man auch damals mobil sein. Und mobil war Wilhelm Rath: spätestens seit 1938 besaß er ein Auto; denn in jenem Jahr ließ er sich in sein Wohnhaus eine Garage einbauen.
Am 30. Juni 1946 schafften sie dann beide den Einzug in die Verfassunggebende Landesversammlung: Wilhelm Rath als direkt gewählter Spitzenkandidat der DVP im Landkreis Ludwigsburg, und Carl Schaefer über seinen 5. Platz auf der Landesliste (der Wahlkreis Ludwigsburg deckte sich mit dem damaligen Landkreis). Außer ihnen gehörten 15 weitere DVP-Kandidaten dem Parlament an. Rath war keineswegs der einzige seines Standes: 8 Landwirte saßen unter den 100 Abgeordneten damals. Das Plenum tagte im Festsaal des Furtbachhauses; die Plätze wurden alphabetisch nach Namen vergeben. So geschah es, daß Rath in der vorletzten Reihe zu sitzen kam, neben „S“ wie Schaefer.
Außer ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Land eine Verfassung zu geben, nahm die Versammlung die Funktion eines vorläufigen Parlamentes wahr. Sie bildete zu diesem Zweck einen 20köpfigen Ständigen Ausschuß. Unterdessen spitzte sich die Ernährungslage im Oktober 1946 dramatisch zu. Der Winter stand bevor, und wegen eines Hafenarbeiterstreiks stockten die Importe aus den USA. General Clay, der stellvertretende US-Militärgouverneur, forderte von den deutschen Behörden die konsequente Erfassung aller landwirtschaftlichen Produkte; darüber hinaus war der Viehbestand auf den Stand von 1939 zu reduzieren.
Daraufhin trat ein Unterausschuß „Landwirtschaft und Ernährung“ zusammen, dem Wilhelm Rath angehörte. Am 25. Oktober 1946 erstattete dieser Unterausschuß Bericht über die aktuelle Lage, und das war nun die Stunde unseres Wilhelm Rath: Hofbegehungen und Kellerkommissionen seien nichts als Unfug, erklärte er. Und was das Abschlachten des Viehs betraf: den Stand von 1939 hatte man bereits weit unterschritten.
Das war schon ein wenig kühn. Saß doch rechter Hand von Präsident Reinhold Maier der Vertreter der Militärregierung. Aber Wilhelm Rath explizierte unter beistimmenden Zwischenrufen seine Überlegungen: bei geringerem Viehbestand ließ sich mehr Brotgetreide produzieren, das war richtig. Doch der Ausfall an Milch mußte die Fettlücke noch vergrößern, die jetzt schon bedrohlich klaffte. Und wörtlich fuhr Rath fort: „Die augenblickliche Ernährung muß auch einmal nach der Zusammensetzung der Kalorien hin untersucht werden. Mit einer Erhöhung der Brotrationen allein ist es nicht getan. Es ist durchaus möglich, daß man auch mit viel Kalorien noch verhungern kann. Dies trifft bei uns insofern zu, als der Fettmangel zu ernsten Besorgnissen Anlaß gibt.“ Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle die Zwischenrufe: „Sehr richtig!“ Und so appellierte Rath unter lebhaftem Beifall an die Hilfe der USA: „Wir zweifeln nicht, daß diese Hilfe wie im vorigen Jahr wieder einsetzt, denn sonst wären weite Kreise unsere Volkes dem Hungertode preisgegeben.“
Um ernährungspolitische Maßnahmen wirksamer umsetzen zu können, sieht Rath die „zwingende Notwendigkeit“, wieder bäuerliche Selbstverwaltungsorgane ins Leben zu rufen. Er selbst hat damit bereits begonnen. Am 16. Oktober 1946 hat er in Bietigheim Delegierte aus 42 Orten des Kreises Ludwigsburg zusammengeholt, um einen „Wirtschaftsverband der Bauern und Weingärtner“ zu gründen. Die Bauern, und unter ihnen vor allem die Winzer, sind nämlich empört: fast die komplette Weinernte des Jahrgangs 1946 ist beschlagnahmt worden. Raths Kommentar dazu: seit Menschengedenken habe es das noch nie gegeben, daß man im Remstal keinen Tropfen Wein zu kaufen bekomme.
Die Maßnahme hatte freilich ihren guten Grund: im Vorjahr, 1945 also, war nur ein Drittel der Weinernte beschlagnahmt worden, um damit die Besatzungsmacht und Krankenhäuser zu versorgen. Die restlichen zwei Drittel waren den Winzern zum freien Verkauf überlassen. Aber – so die Stuttgarter Zeitung – an die Bevölkerung gelangte so gut wie nichts davon: der Wein wurde fast restlos vertauscht, verschoben oder floß sonstwie in unkontrollierbare Kanäle.
Wie gesagt, Rath nutzt den versammelten Mißmut in Bietigheim, um eine berufsständische Vertretung der Bauern und Weingärtner zu gründen. Genau zwei Monate später, am 16. Dezember 1946, wird aber Heinrich Stooß zum Landwirtschaftsminister berufen. Stooß hatte schon vor 1933 mit einem Mandat des Bauern- und Weingärtnerbundes im Landtag gesessen und machte nun sofort Nägel mit Köpfen. Noch Ende 1946 ließ er das altehrwürdige „Wochenblatt für Landwirtschaft“ wieder aufleben, und im Januar 1947 rief er darin zur Gründung eines Bauern- und Weingärtnerbundes auf. Mitunterzeichnet hatte Jakob Dobler aus Pflugfelden, Raths Mitstreiter vom Milchwerk Ludwigsburg.
Dobler dürfte es auch gewesen sein, der Rath nun an die Zügel nahm. Er muß da einige Überzeugungsarbeit geleistet haben, denn Rath war zunächst mißtrauisch gegen alles, was nach dem alten Bauern- und Weingärtnerbund roch. In Bietigheim hatte er vor drei Monaten erklärt: „Wir lehnen es ab, im Sinne des früheren Bauern- und Weingärtnerbundes Politik zu treiben.“ Er dachte da insbesondere an die einstige Schutzzollpolitik, um inländische Agrarprodukte rentabler zu machen. Und im etwas pathetischen Ton der Zeit geißelte er die Interessenpolitik des früheren Bauern- und Weingärtnerbundes: „Wir sind alle, ob Bauer, Handwerker, Industrieller oder Arbeiter, als Glieder der deutschen Volkswirtschaft schicksalhaft miteinander verbunden und müssen hieraus die politischen Folgerungen ziehen.“ Am Ende stieg Rath aber doch ins Boot der neuen Standesvertretung: indem man ihn zum Ludwigsburger Kreisvorsitzenden machte und ihn obendrein in den fünfköpfigen Landesvorstand wählte, bekam er einigen Einfluß auf die Gestaltung des künftigen Bauernverbandes.
Im „Demokrat“, der Beilage zum Parteiblatt „Das neue Vaterland“, schrieben damals junge Männer, deren Namen uns heute noch geläufig sind: Wolfgang Mischnick, Erich Mende oder Thomas Dehler. Auch Wilhelm Rath veröffentlicht hier zwei programmatische Artikel. Der eine, im September erschienen, analysiert die Lage der deutschen Landwirtschaft unmittelbar nach der mageren Ernte 1946. Anfangs referiert Rath hier nur, was damals jeder wußte: daß die ausgelaugten Böden Kunstdünger brauchten, daß Saatgut aus den Ostgebieten ausblieb, und daß Werkzeuge und Maschinen verschlissen waren. Doch er beläßt es nicht beim Lamentieren: während es an allen Ecken und Enden fehlt und selbst die Beschaffung von einfachem Handwerksgerät Mühe macht, propagiert Rath die Motorisierung der deutschen Landwirtschaft. Denn, so wird er später einmal vorrechnen: ein Pferd braucht mindestens einen Hektar Futterfläche, die mit dem Anbau von Handelsfrüchten gewinnbringender genutzt werden kann. 50 Kilometer Fußmarsch sind nötig, um einen Hektar mit dem Gespann zu pflügen. Ein – damaliger – Traktor schafft das in der halben Zeit, nicht zu reden von der Pferdepflege, die oft einen guten Teil des Sonntags beansprucht.
Nebenbei gesagt: Rath selbst ist ein fortschrittlicher Mann. Daß er ein Auto besitzt, ist ja auch nicht alltäglich. Einen Schlepper hat er schon 1940 angeschafft, darüber hinaus eine Sämaschine und eine Dreschmaschine. Er ist ein kluger Kopf. Stets habe er eifrig in der Zeitung gelesen, heißt es. Daß er vor allem im Gespräch mit Carl Schaefer seine wirtschaftspolitischen Einblicke gewonnen hat, dürfen wir als sicher annehmen. Aber woher hat er seine ernährungspolitischen Ansichten? Der Artikel im „Demokrat“ bringt uns auf die Spur. Hier zitiert er nämlich Hermann Dietrich (1879 – 1954), den einstigen Vizekanzler und Reichstagsabgeordneten der Demokratischen Partei. In den Kabinetten Brünings war Dietrich Landwirtschaftsminister, hernach Reichsfinanzminister gewesen und fungierte nun als Sonderbeauftragter für Ernährung und Landwirtschaft in der US-Zone. Rath kannte Dietrich, und er kannte sein Buch „Auf der Suche nach Deutschland“, das 1946 erschienen war.
Was die Landwirtschaft betraf, so setzte Rath auf „Veredelungsproduktion“. Was das zu bedeuten habe, erklärt er in einem zweiten Artikel vom November 46: Da der deutsche Ackerboden für Futterpflanzen zu kostbar ist, müssen möglichst hochwertige Pflanzen – insbesondere Gemüsesorten – angebaut werden. Futterpflanzen sind einzuführen. Das Rückgrat der künftigen Landwirtschaft aber wird die Viehwirtschaft bilden, denn Dietrich hatte erklärt: Milch sei für die deutsche Volkswirtschaft wichtiger noch als Kohle. Rath selbst hat diese Grundsätze in die Tat umgesetzt, als er 1957 zusammen mit seinem Schwiegersohn in Hochberg aussiedelte und jetzt vorwiegend auf Milchwirtschaft setzte.
Weil gerade von Hermann Dietrich die Rede war: der trat in den Parlamentswahlen seit 1946 fleißig als prominenter Versammlungsredner für die DVP auf. Mehrfach hat er auch Wilhelm Rath unterstützt. Die DVP kann am 24. November 1946 bei der Wahl zum 1. Landtag ihr Ergebnis auf 19 ½ Prozent verbessern und ist nun mit 19 Abgeordneten vertreten. Ihr bestes Ergebnis erzielt sie übrigens im Wahlkreis Ludwigsburg mit 28,6 Prozent, und sie liegt damit noch vor der CDU. Wilhelm Rath zieht abermals als direkt gewählter Kandidat ins Parlament ein, für Carl Schaefer reicht sein Listenplatz.
Mit 12 Abgeordneten stellten jetzt die Landwirte die drittgrößte Berufsgruppe im Landtag, nach den Beamten und Angestellten. Die Arbeit auch des Parlaments 1946 – 49 ist geprägt von Mangel und Elend in allen Lebensbereichen. So hatte auch der Landtag alle Hände voll zu tun, die härteste Not zu lindern und die Lasten halbwegs gerecht zu verteilen.
Rath wurde am 29. Januar 1947 in den 15 Mitglieder starken Landwirtschafts- und Ernährungsausschuß gewählt. Nach dem bitter kalten Winter 46/47 gab Landwirtschaftsminister Stooß am 25. März 1947 einen Grundsatzbericht zur Lage der Landwirtschaft. Rath pflichtete in seiner Stellungnahme bei, daß der gegenwärtige Notstand technischer Art sei; es fehlte an jedweden Produktionsmitteln – vom Kunstdünger bis zum Melkeimer. Nicht minder gravierend sei jedoch der Arbeitskräftemangel auf dem Land, und der wiederum habe viel zu tun mit dem niedrigen Lohn- und Preisniveau im Agrarsektor. Rath warnte davor, die Bauern noch mehr unter Druck zu setzen und zitierte dazu ein Wort aus dem 5. Buch Mose: „Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden.“
Rath blieb dabei: eine Intensivierung des Kartoffelanbaus und der Milchproduktion tat not, denn: „Die wichtigste Fettquelle ist die Milch unserer Kühe.“ Getreide dagegen ließ sich lagern und daher aus Übersee importieren – auch wenn Deutschland dadurch zum Bittsteller der Besatzungsmacht wurde.
Rath verwies dann auf den Streik von 4000 Bosch-Arbeitern, die solchermaßen gegen die Kürzung ihrer Fett- und Fleischrationen protestierten. Und er fand es höchst unklug, gerade hier zu kürzen – wo doch Bosch „hochwertige und lohnintensive Exportgüter“ fertigte, mit denen sich Kompensationsgeschäfte machen ließen.
Den württembergischen Wein wiederum hätte man im interzonalen Austausch einsetzen können, um damit frisches Saatgut einzuhandeln. Aber was war geschehen? Die Weinernte war – wie berichtet – zum Verdruß der Winzer beschlagnahmt worden, und sie kursierte jetzt – so Rath wörtlich – „als unterirdische Goldwährung.“
Raths Rede vom 26. März 1947 ist im Druck volle 3 Seiten lang. Doch bereits an diesen paar Kostproben dürfte deutlich geworden sein, daß er natürlich die Interessen seines Berufsstandes wahrnahm. Aber er war kein Bauernfunktionär. Stets bemühte er sich, die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge im Auge zu behalten. Anregungen dazu mag ihm, wie gesagt, sein Freund Carl Schaefer geliefert haben. Aber auch mit Reinhold Maier verkehrte er gern, lud ihn des öfteren ein nach Hochberg. Vieles spielte sich damals noch im privaten Bereich ab. Im Wohnzimmer Wolfgang Haußmanns hatte sich am 18. September 1945 die Gründung der DVP vollzogen. Ebenso kam man in Wilhelm Raths guter Stube zusammen. Hatte doch Hochberg den Vorteil, daß Rath stets auftischte, und das nicht zu knapp. Just als Heuß einmal zu Besuch war, disputierte man über die Frage: was ist legitim und was nicht? Wilhelm Rath wußte daraufhin nicht so recht, ob er die Köstlichkeiten aus seinem Selbstversorger-Deputat anbieten dürfe. Doch der Gast zerstreute seine Bedenken mit dem Ausspruch: „Auch ein Heuß hat Hunger.“
Weil die Dinge sich nicht besserten – eine Dürreperiode im Sommer 47 verschärfte die Lage noch –, blieb der Mangel allgegenwärtig. „Jedes zweite Stück Brot, das wir essen, kommt aus Amerika“, gab Rath zu bedenken. Die württembergische Landwirtschaft produzierte mittlerweile keine 1000 Kalorien pro Kopf der Bevölkerung. Die Diskussionen im Landwirtschaftsausschuß kreisten also meist um die altbekannten Probleme. Neu war eigentlich nur die Wildschweinplage. Vor dem Krieg hatte es in Württemberg 60 bis 80 Wildschweine gegeben, jetzt waren es 1500 Stück. Und die Schwarzkittel wühlten ungeniert die Felder um, da die Militärregierung immer noch jegliche Jagdausübung mit Schußwaffen untersagte. Rath forderte daher, „wenigstens 200 Privatjäger zur Bekämpfung des Schwarzwild-Schadens mit Gewehren auszurüsten.“ Ohne Erfolg. Das landwirtschaftliche Wochenblatt veröffentlichte Bauanweisungen für Saufänge, und Rath appellierte mit einer Resolution bei der Stuttgarter Bauernverbandstagung 1948 an die Militärregierung: „Die Jagdmöglichkeiten sind sofort in ausreichendem Umfang wiederherzustellen. Jagdgewehre können im Zeitalter der Atombomben, Flugzeuge und Panzer nicht mehr als Waffen gelten.“
Im Plenum erneuerte er mehrfach seine alte Forderung nach Steigerung der Fettversorgung, die zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben sei. Abfälle aus der überreichen Bucheckernernte sollten ans Milchvieh verfüttert werden. Eines seiner Lieblingsthemen war und blieb aber der Arbeitskräftemangel auf dem Lande. Er forderte dazu ein „Notgesetz“ und rief aus: „Die Kost würde man mit uns teilen, aber die Arbeit überläßt man uns“. Dafür erntete er ein „Sehr richtig! bei der CDU“, die ja dann einen „freiwilligen Landdienst“ einführen wollte.
1948 setzte sich Rath für die Förderung der landwirtschaftlichen Berufsausbildung ein. Schloß und Hofgut Hemmingen schlug er vor als Sitz einer neu einzurichtenden Höheren Landbauschule. Diplomierte Landwirte gab es ja mehr als genug. Die Höhere Landbauschule aber sollte tüchtige Bauernsöhne abfangen, ehe sie zum Studium nach Hohenheim gingen. – Raths Antrag wurde zunächst einmal an den Finanzausschuß verwiesen. Denn man schrieb den 8. Juli 1948, und seit gut zwei Wochen war die neue D-Mark im Umlauf. Es dauerte dann noch fast 1 ½ Jahre, bis die Höhere Landbauschule am 15. November 1949 eröffnet wurde – zwar nicht in Hemmingen, aber in Nürtingen.
1948/49 entfaltete Rath eine eifrige Rednertätigkeit. In Schwieberdingen behandelte er „aktuelle Tagesfragen“, in Ludwigsburg trat er zusammen mit Carl Schaefer auf. In Oberstenfeld und Großbottwar hatte er Walter Nischwitz zum Partner, den späteren Fraktionsvorsitzenden; hier ging es um „Marshall-Plan und Wirtschaft“. In Aldingen berichtete er über das Lastenausgleichsgesetz und debattierte heftig mit einem Vertreter der Heimatvertriebenen.
Und dann kam das Jahr 1949: die Wahl zum Ersten Deutschen Bundestag. Wilhelm Rath wurde zum Spitzenkandidaten der DVP im Kreis Ludwigsburg nominiert, und als Ende Juli die heiße Phase des Wahlkampfs begann, war Rath der fleißigste Redner: Täglich sprach er zweimal am Abend, oft erst um 22 Uhr. Am 9. August 1949 hatte er im Ludwigsburger Ratskeller-Saal Hermann Dietrich zur Seite, den wir bereits kennengelernt haben. Rath stellte die DVP als Partei des sozialen Ausgleichs vor. Nicht nur der Mann mit den Gaben des Geistes sei hier zu Hause, sondern auch der Mann mit der schwieligen Hand. Eine bürgerliche Volkspartei also, ein „Sammelbecken all derer, die guten Willens sind.“ Denn – so fährt Rath fort: „Mit einem entschiedenen sozialen System kommen wir weiter als mit sozialistischen Roßkuren.“
Seine Taktik der Integration ging auf: Am Wahltag, dem 15. August 1949, verfehlte Rath mit 22.395 Stimmen nur knapp das Direktmandat im Kreis Ludwigsburg. Der SPD-Kandidat Willi Lausen schlug ihn mit ganzen 185 Stimmen Vorsprung. Übrigens erlitt damals Theodor Heuß genau das gleiche Schicksal, als er in seinem Wahlkreis Stuttgart-West gegen die SPD-Kandidatin unterlag. Beide – Heuß und Rath – zogen aber über die Landesliste in den 1. Deutschen Bundestag ein und legten gleichzeitig ihr Landtagsmandat nieder. Für Wilhelm Rath rückte der Bönnigheimer Bürgermeister Wilhelm Wachter (1893 – 1974) nach.
In Bonn nun machte sich Rath stark für die Förderung des heimischen Obstbaues. Infolge des Marshall-Planes überschwemmten Importe den Markt. Der deutsche Obstbau war rückständig und nicht mehr konkurrenzfähig, seitdem die Zwangswirtschaft der Kriegs- und Nachkriegszeit jegliche Bemühung um Qualitätsverbesserung einheimischer Sorten erstickt hatte. Rath arbeitete daher mit an einem Marktordnungsgesetz für Obst und Gemüse. Und er wußte genau, wovon er sprach: sein eigener Landwirtschaftsbetrieb lebte damals zu 80 Prozent von der Obstproduktion. Sein Vater hatte den „Rathsapfel“ gezüchtet, und Wilhelm Rath selbst war Kreisvorsitzender des Obst- und Gartenbauverbandes. Den Herrn Bundeskanzler erinnerte er einmal vor vollem Haus an ein Wort, das dieser in Rhöndorf gegeben hatte: daß ihm nämlich der Obst- und Gemüsebau eine Herzensangelegenheit sei.
Von Adenauer – dem „Alten“, wie man ihn alle nannten –, sprach Rath stets mit Respekt. Kollegialen Umgang pflegte er hingegen mit Leuten wie Ludwig Erhard, auf den er große Stücke hielt. Wilhelm Rath hat gern die Geschichte erzählt, wie er sich mit Erhard einmal dort traf, wo auch Bundestagsabgeordnete zu Fuß hingehen. Dem Dicken entfuhr dabei ein recht geräuschvoller Ton. „Entschuldigung, Herr Kollege“, wandte er sich an Rath. Der antwortete ihm auf gut schwäbisch: „Macht nix, des ischt a gsonds Nieße, des verschüttelt den Kopf net so.“ Erhard, der Franke, verstand kein Wort, und Rath wiederholte in seinem besten Hochdeutsch: „Das ist ein gesundes Nießen, das verschüttelt den Kopf nicht so.“ Erhard soll noch während der Sitzung vor sich hin geschmunzelt haben, und in der Pause bat er: „Herr Kollege, sagen Sie mir das noch einmal!“
Warum Wilhelm Rath dann für die 2. Legislaturperiode 1953 nicht mehr kandidierte, ließ sich nicht klären; hier könnte allenfalls das Parteiarchiv weiterhelfen. An seinen persönlichen Qualitäten dürfte es nicht gelegen haben. Hatte es doch 1949 geheißen, Rath sei „in den letzten vier Jahren durch seine selbstlose sachliche Arbeit in Parlament und Bauernorganisation zu einem Namen gekommen.“ Auch für seinen Wahlkreis hatte er sich nach Kräften eingesetzt. So war es in erster Linie ihm zu verdanken, daß die bei Kriegsende zerstörte Hochberger Neckarbrücke bereits 1948/49 wieder aufgebaut wurde; eine Tafel erinnert heute noch daran.
Wahlkreiskandidat der FDP/DVP für die Bundestagswahl 1953 war jedenfalls der Finanzminister und ehemalige Ludwigsburger Oberbürgermeister Karl Frank. Mag sein, daß der Praktiker Rath sich im Parlament der beginnenden Wirtschaftswunderzeit nicht mehr so recht heimisch gefühlt hat. Nur seinen Sitz im Kreistag behielt er bis 1959. Bis 1961 leitete er den Kreisverband der Obst- und Gartenbauvereine, bis 1962 blieb er Vorsitzender des Kreisbauernverbandes und wurde anschließend zum Ehrenvorsitzenden ernannt. Der Landesverband machte ihn 1963 zum Ehrenmitglied, und ein Jahr später zeichnete er ihn mit der Goldenen Ähre aus. Schon seit 1954 war Wilhelm Rath als Sozialrichter tätig, und 1958 bekam er das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen.
In seinen letzten Lebensjahren wurde Wilhelm Rath zunehmend hinfälliger. Das Gehen fiel ihm schwer. Nicht wegen einer Verletzung aus dem 1. Weltkrieg, wie einmal behauptet worden ist. Er war schlichtweg abgearbeitet. Am 31. Mai 1967 ist er gestorben, fünf Wochen vor seinem 75. Geburtstag.